SEHNSUCHT IN FLASCHEN

 »SPERSS« NENNT MAN IN PIEMONT DIE SCHWÄRMEREI FÜR EINE VERKLÄRTE VERGANGENHEIT. ALS ANGELO GAJA DEN REBBERG IM BAROLO-GEBIET KAUFEN KONNTE, VON DEM SEIN VATER GIOVANNI SEIT SEINER JUGEND SCHWÄRMTE, GAB ER DEM WEIN VON DORT DIESEN NAMEN UND DREHTE DAMIT AUF SEINE WEISE DIE ZEIT ZURÜCK

Von RAINER SCHÄFER  Fotos THILO WEIMAR

Zur Begrüßung streckt Gaia Gaja ihre Zunge heraus. So zeigt sie, womit sie sich an diesem Vormittag schon beschäftigt hat: Das Organ und einige Zähne sind violett eingefärbt. Wer Fassproben von Rotweinen ver- kostet, wie die Winzerin das heute mit ihrem Vater Angelo und ihrer Schwester Rossana tut, kann das nach einiger Zeit nicht mehr verbergen. Angelo Gaja gilt als König des Barbaresco, mit dem er sein Weingut in Piemont weltberühmt gemacht hat. Dieses Mal jedoch spielt der Barbaresco nur eine Nebenrolle, der Star dieser Geschichte ist der Barolo Sperss, der eine ganz besondere Bedeutung für die Familie hat.


Ruhestand hin oder her, vom Sperss
erzählt Angelo Gaja immer gern


Derart wichtig ist der Sperss, dass Gaia Gaja, Angelos älteste Tochter, sogar an einer Bildergeschichte über ihn und seinen Ursprung arbeitet: »Mein Vater und mein Großvater haben mir so oft davon erzählt, dass ich das einfach tun musste.« Vor ihr auf dem Tisch liegen ein paar Papierbögen mit Entwürfen, und wenn sie einige Textpassagen vorliest, spürt man, wie sehr sie dieser Wein beschäftigt und berührt. Der Zeichner, mit dem die 1979 geborene Winzerin zusammenarbeitet, orientiert sich an Fotos aus dem Familien- album. »Die Geschichte des Sperss in Bildern ist cool, sogar ein Stück Popkultur«, sagt Gaia Gaja, die auch an der Grafik mit- arbeitet, obwohl sie das nie gelernt hat. Der Name des Weins, erklärt sie, bedeute im piemontesischen Dialekt Nostalgie, »es ist die sentimentale Sehnsucht nach einer Zeit, die nicht zurück- kommt«. Aber Sperss steht vor allem für die Erinnerung an Giovanni Gaja, ihren Großvater, die ihre Familie mit diesem außergewöhnlichen Barolo lebendig halten will.

In den engen Gassen von Barbaresco steht an der Via Torino der Stammsitz der Familie Gaja, die auch in anderen Regionen Wein erzeugt. Aber die Beziehung zu dem in die piemontesische Hügellandschaft eingebetteten Dorf ist über Generationen gewachsen, Angelo Gajas Vater Giovanni war hier jahrelang Bürgermeister. Vor einiger Zeit hat die Familie das Castello dei Galleani mit der terrakottafarbenen Ziegelfassade gekauft. Innen wirkt es mit seinen weiß getünchten Arkaden- gängen wie ein Palast, an den Wänden hängen Gemälde und Plastiken. Gaia Gaja geht zielstrebig durch das Gebäude, das nichts Protziges hat – die Gajas sind trotz ihrem gewaltigen Ruf bodenständig geblieben. Ein solides Tor verwehrt Touristen den Zutritt, sonst käme die Familie nicht mehr zu dem, was sie am liebsten tut: bedeutende Weine machen.

Rund 20 Kilometer südwestlich von Barbaresco, bei Serralunga d’Alba, liegt der Weinberg in der Località Marenca, aus dem die Trauben für den Sperss kommen. Erst 1988, da ging er auf die 50 zu, konnte Angelo Gaja das Grundstück erwerben und sich damit einen langjährigen Traum erfüllen: Kaum eine andere Lage in den Langhe hatte ihn so nachhaltig fasziniert. Marenca baut sich im Halbkreis wie ein Amphitheater auf, aber zugleich erinnere seine Form sie an eine Schlange, erklärt Gaia Gaja und zeigt die Silhouette auf einer Skizze. Die Reben sind über 65 Jahre alt und wachsen in bis zu 400 Metern Höhe auf Böden, die in den Langhe Marne di Sant’Agata genannt werden. Sie bestehen aus Mergel, grauem Ton, Lehm und Kalkstein, sind kompakter als der Untergrund in Barbaresco, dem mehr Sand beigemengt ist. »Es sieht aus«, sagt Gaia Gaja, »als würde der graue Ton von blauen Adern durchzogen. Mein Groß- vater hat die besondere Energie und Kraft in diesem Weinberg gespürt.« Kurz verlässt die Winzerin den Raum und kommt mit einer Flasche Sperss des Jahrgangs 2018 zurück. Über Wein zu reden, erklärt sie, sei eine Sache. Aber wie solle man ihn vollständig verstehen, ohne ihn zu trinken? Dunkel fließt der Barolo ins Glas, er riecht nach Trüffel, Sauerkirsche, Pfeffer, nassem Laub, etwas Kolanuss und Zitronengras, auch erdige Noten entströmen dem Glas. 

Nach einer Weile kommt Angelo Gaja dazu. Tagesgeschäft und Termine überlässt er inzwischen seinen Kindern, aber wenn wie heute über Sperss geredet wird, ist er gerne dabei. Sofort fängt er an zu erzählen; nur gelegentlich unterbricht ihn seine Tochter, um die Schilderung zu ergänzen. Angelo Gajas Vater Giovanni, 1908 geboren, ging als Jugendlicher in Turin zur Schule. Aber seine Mutter Clotilde Rey mochte im Herbst nicht auf die Arbeitskraft ihres Sohnes verzichten, der für vier Wochen bei der Traubenernte anpacken sollte. Der Schuldirektor lehnte die Anfrage ab, Giovanni müsse sich aufs Lernen konzentrieren. Doch jedes Jahr sprach Clotilde Rey wieder vor, und als ihr Sohn 16 war, gab der Direktor schließlich nach: Da Giovanni ein guter Schüler sei und den versäumten Unterricht wohl verkraften könne, wolle man es auf einen Ver- such ankommen lassen.

Kurz darauf war Giovanni bei der Lese in Barbaresco, wo die Gajas schon seit 1859 Weinbau betreiben – angefangen haben sie mit gerade mal zwei Hektar Reben, heute sind es mehrere hundert. Der Winzersohn musste sich einem strengen Tages- ablauf unterwerfen: Morgens um sechs stand er auf und erntete dann Trauben, bis das Abendessen auf den Tisch kam. »Es war harte Arbeit«, weiß Angelo Gaja, »aber es waren andere Jugend- liche dabei, mit denen er sich gut verstand.« Doch Giovanni litt darunter, dass die gestrenge Mutter ihn an der kurzen Leine hielt – während sich die anderen abends im Dorf auf der Piazza treffen und vergnügen konnten, schickte sie ihn früh ins Bett.

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Die Zeichnungen zeigen Giovanni Gajas Geschichte vom Erntehelfer bis zum Senior des Guts mit den getünchten Arkadengängen. Der Sperss-Rebberg liegt unterhalb von Serralunga d‘Alba

Der Altmeister als Zentrum der Familie: Seine Frau Lucia und die Kinder Gaia, Rossana und Giovanni (v. l.) nehmen beim Spaziergang in den Gassen von Barbaresco Angelo Gaja in die Mitte